Bärlin hat mich wieder
Ein Kreis schließt sich für mich am 30. August 2002. Nach 18 Jahren
Dorflebens nenne ich Berlin wieder meine Heimatstadt.
Nein, ich habe mich auf dem Land (genauer gesagt in Neuruppin) nicht unwohl
gefühlt. Doch war Berlin immer meine Lieblingsstadt, ohne Wenn und Aber. Konnte
man dort seine Großeltern besuchen, zum Einkaufen hinfahren oder zum Fußball
gehen.
Meine Mitbewohner werden Markus und Yessica sein, die derweil im Urlaub sind.
Ich werde noch über sie berichten.
Am 27. August, einen Tag nachdem ich die Zulassung zur Uni erhielt, habe ich
den Mietvertrag unterschrieben und die Schlüssel entgegengenommen. Am 30. August
die erste fast schlaflose Nacht in der Wohnung, muss früh raus, da ich einen
Termin in Rostock habe. Die Wohnung ist bis dato nur mit Matratze, Bettzeug,
Kerzen und Mikrowelle ausgestattet. Anfang September kommen Tischlampe und Radio
dazu. Am 9. September fange ich mit den Malerarbeiten an. Ich habe Farbe besorgt
und mit tatkräftiger Unterstützung meiner Freundin Katja (eigentlich sollte man
ihr eine eigene Homepage widmen) gehts los. Mein Zimmer begrüßt jeden Gast nun mit einem
freundlichen Grün, oder "Kerbel" wie es im toom-Baumarkt verkauft wird. Der Flur
hatte einen Neuanstrich dringend nötig. Die Dielen im Flur werden folgen.
Wo wohne ich nun eigentlich? In Lichtenberg. Nein, nicht
Neuruppin-Lichtenberg, da wo Bärte wohnt, sondern Berlin-Lichtenberg. Klingt ein
bisschen wie Rostock-Lichtenhagen, nur dass in meiner neuen Heimat nicht mal
dreiviertel soviel Nazis wie in besagtem Hansestadt-Getto wohnen. Ein richtiger
Wohlfühlbezirk also. Überhaupt, Bln.-Lichtenberg ist nicht irgend ein Bezirk. Es gibt
vermutlich keinen zweiten Ort in der westlichen Hemisphäre, in dem man auf der Straße dermaßen
auf der Hut vor Hundekot sein muss. Glücklicherweise sind die meisten Mädchen, die
einem auf dem Bürgersteig begegnen, nicht sonderlich hübsch. Man würde
vermutlich nur eine Sekunde lang den Blick vom Boden heben und...
Ich habe mir inzwischen aus Papier mein Zimmer in Originalgröße nachgestellt und beginne nun
mit der Anfertigung maßstabsgetreuer Möbel aus Pappmaché. Alles auf unserem grünen
Hinterhof ausgebreitet, werde ich mir hoffentlich über die Anordnung meiner Einrichtungsgegenstände
im Klaren. Der Wohnungsverwaltung habe ich übrigens längst Pläne vorgelegt, die
vorsehen, aus dem grünen Hinterhof ein sogenanntes reines Fußballstadion zu machen, also ohne
Laufbahn.
Endlich war auch der freundliche Gasmann da (16. September). Ich habe jetzt nicht nur eine
Telefonnummer (10. Sept.), unter der es laut der Dame vom Tonband "keinen Anschluss" gibt,
da ich noch keinen Fernsprechapparat habe; nein, jetzt kann ich auch warm duschen. Wasser wird
nämlich bei uns per Gas-Durchlauferhitzer erhitzt. Eine tolle Sache ist auch folgendes und eine
der Dinge, die das Gefühl, in einer eigenen Wohnung zu hausen, noch verstärken: der eigene
Briefkasten. Ich werde mir einen "Keine Werbung bitte - danke"-Sticker beschaffen
müssen, denn er quillt vor Möbeldiscounter-Werbung über; aber es ist toll, einen
Briefkasten zu haben. Morgens aufstehen, Frühstück ans Bett, im Schlafanzug die Treppe runter,
Briefkastenschlüssel vergessen, Treppe wieder hoch, Nachbarn übern Weg laufen, freundlich
grinsen und einen guten Tag wünschen, den pfeifenden Teekessel vom Gasherd nehmen, Treppe
runterstürzen, Rechnungen, das geht ja gut los, Werbung im bereitgestellten Karton entsorgen,
nein, die ist von extra, das ist der Supermarkt um die Ecke, da findet man immer mal was.
Auch einen Keller können wir für die nächsten acht bis zehn Faulenzersemester unser
Eigen nennen, wir haben echt an alles gedacht. Ich habe sofort die Küchentür da unten
verstaut, die steht eh nur im Weg.
Es gibt nicht wenige Stimmen, die behaupten, das geht nicht gut. Markus und Kev in einer Wohnung,
Markus und Yeye gar in einem Zimmer. Die Leute haben vollkommen recht, das kann gar nicht klappen.
Aber wir wären nicht drei naive junge Leute, wenn wir die Mischen Impossible nicht wenigstens
versuchen würden. Oder? Was soll schon passieren, schlimmstenfalls gehen Freundschaften in die
Brüche.
Mein Umzug von Kränzlin nach Berlin hat indes eine beispiellose Welle der Spendenbereitschaft
ausgelöst. Die Menschen eilen von nah und fern herbei um mir selbstlos ihre ausgedienten
Möbel zu überlassen. Wenn man diese Hilfsbereitschaft über Jahre hinaus konservieren
kann, mache ich mir keine Sorgen mehr um dieses Land.
Unseren Wahlkreis hat die Frau Lötzsch von der PDS gewonnen. Sie sitzt nun als eine von zwei
dunkelroten Damen im Bundestag. Am 1.10. lud die FHTW zur Imma-Feier und am 7. Oktober besuchte ich die
erste Vorlesung im Fach Rechnerarchitektur/Betriebssysteme, kurz RABS. Meinen Stundenplan habe ich so
eingerichtet, dass ich nie vor nullachtfuffzehn aufstehen muss. Klever, nicht?
Am achten Oktober kam dann der Herr Markus aus Peru wieder, Yeye kommt etwa zwei Wochen später nach.
Wir haben das Schlafzimmer von M&Y in einem hellen Rot gestrichen. Kommt man zur Wohnungstür herein,
und wir wollen doch hoffen, dass sehr viele Leute uns besuchen werden, sieht man die Farben unserer Zimmer
durch die plexiverglasten Tüen: links grün, rechts rot. Backbord, steuerbord.
Nun steht uns also die erste Woche WG-Lebens ins sprichwörtliche Haus, derweil $Freundin_von_Markus in Peru und
$Freundin_von_Kev im Ländle weilt. Wir werden berichten, ob wir uns total gezofft haben oder in Harmonie
jeden Abend gemeinsam ein Bierchen trinken, aus der selben Flasche. Die Wahrheit wird irgendwo in der Mitte
liegen.
Am 12. Oktober sind wir mit all dem schönen Krempel, der eine Wohnung wohnenswert macht, nach Berlin umgezogen.
In den folgenden Tagen baute ich die zuvor mühsam in alle Einzelteile zerlegten Einrichtungsgegenstände wieder auf.
Ich erkannte von außen unseren Balkon nicht und musste den Wetteinsatz einlösen, der in der Zubereitung des ersten
Abendmahles bestand. Ich kochte leckere Spaghetti und reichte Bier dazu.
Wir verstehen uns meistens ziemlich gut und fühlens uns prächtig im neuen Heim.
Endlich, wir schreiben den 26. Oktober und machen uns auf nach Tegel um Yessica vom Flieger aus Peru abzuholen.
Unsere WG ist komplett!
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